Buchbinderei Köster
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Nov
2007

Kleisterpapier-Philosophie

von Susanne Krause

Wissenschaftler, Händler und Handwerker stehen sich in nichts nach, wenn es darum geht, Muster mit Namen zu belegen; aber hat irgendjemand einen Nutzen davon? Ich fürchte, daß es eher zu dem
generellen Durcheinander beiträgt, das in der Nomenklatur von Kleisterpapier vorherrscht.
Sprache kann das Leben nur unvollständig beschreiben. Nicht einmal die 50.000 Schriftzeichen der chinesischen Weisen erreichen mehr.
Buntpapier ist lebendig, es verändert und entwickelt sich ständig. Wir haben keine Chance, diesen Vorgang mit Wörtern abzubilden.
Wenn man von Musterkarten des 18. und 19. Jahrhunderts ausgehen kann, wurde zu jener Zeit ein Mittelding zwischen Name und
Beschreibung benutzt, das ohne das daneben eingeklebte winzige Muster annähernd nutzlos gewesen wäre. Auch so ist das Muster
nicht so sehr echte Information als viel mehr eine Erinnerung an etwas, das sowieso alle wissen.

Es gibt nur sehr wenige Kleisterpapiermuster mit allgemein anerkannten Namen. Einige Muster erscheinen jahrzehntelang immer
wieder, manchmal mit kleineren oder größeren Veränderungen, aber dennoch gleich. Sie sind namenlos. Werden sie dadurch weniger
schön? Weniger wichtig? Nein.

Kleisterpapier wird gestrichen, oder gestrichen und abgezogen, oder auf einer dieser beiden Grundlagen weitergeführt.

Mir scheint, es ist am besten, Grundbezeichnungen mit erklärenden Beifügungen zu verwenden und sich darauf zu verlassen, daß ein
Blick auf das Muster oder den Bogen für endgültige Klarheit sorgt. Manchmal ist es nicht einfach, die Person am anderen Ende der
Telefonleitung zu verstehen. Dann kommen Brief, Fotografie und EMail zum Zuge.

Ein Muster zu beschreiben ist eine grundlegend andere Sache, als einem Muster einen Namen zu geben. Mit einer brauchbaren
Terminologie können Beschreibungen in der Forschung nützlich sein, wenn weder das Original noch ein Foto vorliegen. Leider ist ein
Buntpapier-Thesaurus bis jetzt nicht geschrieben und dann auch noch allgemein anerkannt; jeder Thesaurus pflegt unter den Experten
heiße Debatten auszulösen.
Für brauchbare Beschreibungen sind gründliche technische Kenntnisse nötig, damit so viele irreführende Informationen wie
möglich vermieden werden können. Von denen gibt es schon genug.
Nicht jedes Muster, ob nun historisch oder nicht, kann einfach und schnell durchschaut werden. Manchmal muß man um die Ecke
denken. Wenn ich das nicht schon vorher gewußt hätte, hätte ich es begriffen, als ich einmal ein Muster des frühen 18. Jahrhunderts zu
kopieren hatte. Nach viel Probiererei baute ich mir schließlich ein Werkzeug, indem ich eine Rolle aus Blasenfolie mit Sand füllte und
die ganze Konstruktion in Haushaltsfolie wickelte. Der Restaurator des Buches mit dem stark verschimmelten Vorderdeckel konnte
wunderbare Übergänge zwischen altem und neuem Papier herstellen und war begeistert - wie war das nochmal mit den historisch exakten
Arbeitstechniken?
Buntpapiermacherei ist ein sehr altes Handwerk.

Wie alle alten Gewerke, die noch lebendig sind, hat sie durch die Arbeit, die Erfahrung und die Erinnerung von vielen Handwerker-Generationen
überlebt. Es ist unvermeidlich, daß in jeder Generation mehr oder weniger dieser Erinnerung verlorengeht. Auf der anderen Seite fügt
jede Generation dem Erbe der Vorfahren mehr oder weniger neues Wissen und neue Erfahrungen hinzu.
Um ein altes Handwerk, um Buntpapiermacherei am Leben zu halten, muß sichergestellt werden, daß so viel Wissen wie möglich an so
viele Menschen wie möglich weitergegeben wird. Alle Profis sind gefordert, sich erzählend, vortragend, unterrichtend, schreibend oder
vorführend an dieser großen und wichtigen Aufgabe zu beteiligen.
Natürlich gibt man dabei keine Betriebsgeheimnisse preis, das erwartet auch kein vernünftiger Mensch. Mit Wissen und Erfahrung
kann man Betriebsgeheimnisse von Allgemeingut unterscheiden.
Die interessierten Personenkreise, d. h. Amateure aus Buchbinderei, Druck, Kunst usw., müssen erfahren, daß das, worüber sie in den
farbenprächtigen Büchern aus den Hobbyregalen der Buchhandlungen lesen, tatsächlich von Profis für den Lebensunterhalt
betrieben wird. Ich bezweifle, daß Buntpapier ohne Amateure das wäre, was es heute ist; und das Wort „Amateure“ ist nicht im
Geringsten despektierlich. In „Amateur“ ist das lateinische Wort „amare“ enthalten, und das bedeutet „lieben“.
Profis aus verwandten Gewerken müssen daran erinnert werden, daß es noch Buntpapiermacher gibt und daß sie noch arbeiten.
Wissenschaftler müssen erfahren, daß wir über alte Techniken befragt werden können. Es gibt keinen Grund für Spekulationen und
Theorien, wenn das Original noch zu haben ist.
Künstler brauchen Denkanstöße genau so wie wir alle. Viele bildende Künstler versuchten sich Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts an der Buntpapiermacherei und kombinierten die Möglichkeiten des Handwerks mit den Möglichkeiten ihrer Kunst. Es
macht viel Freude, Künstler unter den Teilnehmern eines Anfängerkurses zu haben. Gemeinhin kommen sie mit einer
liebenswerten Mischung aus Neugier und Skepsis, werden dann herablassend und erfreuen später alle Anwesenden mit einem
Reichtum von alten und neuen Ideen. Ob es um Vorträge, Unterricht oder Demonstrationen geht: Alle
wirken sich in beide Richtungen aus. Es geht nicht nur darum, daß ich mein Fachwissen an andere weitergebe. Die Fragen, Versuche,
Mißerfolge und Erfolge der anderen Pesonen erreichen und beeinflussen mich. Sie drängen mich aus den gewohnten Wegen und
zwingen mich, Dinge zu überdenken. Ich muß meine Tätigkeiten in klare Wörter fassen, und auf diese Weise verstehe ich immer besser,
was ich tue. Buntpapier und Kunst sind zwei Paar Schuhe. Kunst ist etwas Einzigartiges, das zur Wiederholung oder Weiterverarbeitung
weder gedacht noch geeignet ist. Buntpapier ist Wiederholung, ist für die Weiterverarbeitung konzipiert und in wahrscheinlich 999 von
1000 Fällen dazu gedacht, aufgeschnitten und Teil von etwas anderem zu werden. Wenn also Buntpapiertechniken eingesetzt werden, um
einen Kunstgegenstand zu schaffen, muß er auch Kunst (oder Grafik oder was auch immer) genannt werden - aber bitte nicht Buntpapier.
Mit Buntpapiermacherei wird man garantiert nicht reich.

Wenn Buntpapiermacher (die weitaus meisten von ihnen sind Marmorierer) sich treffen, gibt es einen beliebten Wettbewerb, er
heißt: „Wer hat die kleinste Werkstatt?“ Zwar könnte ich auf diese Ehre sehr gut verzichten, aber ich gewinne
immer mit meinen 7 m2 unter der Dachschräge als Naßraum mit zwei Eimern hinter der Tür anstelle eines Wasserhahns mit Ausguß
und rund 15 m2, die sich auf zwei weitere Räume mit mehr Dachschrägen verteilen. Diese Flächen dienen zum Holen und
Ausgießen von Wasser, als Lager, zum Pressen, zum Schneiden und Zusammentragen von Katalogen, für Kundengespräche, zum Packen
von Versandgut und zum Schreiben. Die gesamte Werkstatt ist winzig im Vergleich zu den Räumlichkeiten, über die die meisten
Kollegen verfügen. Trotzdem ist sie groß genug für bis zu 80 Bogen Kleisterpapier am Tag, abhängig vom Muster und von der Jahreszeit.
Bedeutet das, daß Kleisterpapier küchentischkompatibel ist? Ja, so ist es, und so ist es von jeher gewesen, und ich wünsche mir, daß es
auch so bleibt.
 Kleine Werkstätten können ziemlich anstrengend sein. Es erfordert einen gewissen Sinn für Humor, wenn man (der Eimer wegen) den
Raum immer seitwärts verlassen muß. Ganz besonders unterhaltsam finde ich diese Aktion, wenn ich einen nassen Bogen trage, den ich
auf den Notfall-Reserve-Trockenständer vor dem Papierschrank im übernächsten Raum hängen will. Wenn ich unerwartet ein
Ersatzwerkzeug brauche und mich dafür durch die diversen Basketbälle, Badmintonschläger und Inlineskates meiner Sprößlinge
arbeiten und den schwankenden Turm aus Pappkartons mit meinen Firmendrucksachen und Katalogen zur Seite schieben muß, dann
träume ich von einer großen, geräumigen Werkstatt mit Platz für alles, was ich vielleicht brauche.
Kleine Werkstätten haben aber einen dicken Pluspunkt, der nicht zu verachten ist: Es ist einfach, das Raumklima konstant zu halten. Das
ist besonders hilfreich, wenn eine große Auflage mit außergewöhnlich empfindlicher Struktur gefertigt werden muß. Es versöhnt mich sogar
mit den Eimern und den Sportsachen.
Die erste und wichtigste Zutat für ein mittelalterliches Evangeliar war eine Herde von beispielsweise 200 Lämmern oder Kälbern für das
Pergament. Ein Buch war Luxus.
Der lange Weg von dem einzelnen Buch, das zu den wertvollsten Besitztümern eines Edelmanns gerechnet wurde zu Taschenbüchern
und Print On Demand ist ohne Buntpapier nicht vorstellbar; Buntpapier war jahrhundertelang ein fester Bestandteil der
Buchherstellung. Heute hat es sich von einem Gegenstand des Alltags zu etwas Elitärem gewandelt. Professionell hergestelltes
Buntpapier ist eine Sache für Handbuchbinder, Restauratoren, Sammler, Museen und Bibliotheken geworden, für Spezialisten mit
Sinn für Individualität.
Professionelle Buntpapiermacher sind heute nicht mehr die Handwerker, die jeder Buchbenutzer und jeder Buchliebhaber früher
oder später braucht. Wir werden mitsamt unserer Arbeit als eine etwas absonderliche Mischung aus Handwerker, Künstler, Zauberer,
Druckmaschine und notwendigem Übel betrachtet. Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns auf diese Situation einstellen.

Kleisterpapier war immer eher etwas zum Machen als etwas zum Bedenken. Dabei sollten wir es belassen. Nachdenken ist gut und
schön und wichtig, aber es darf nicht der praktischen Arbeit im Wege stehen.
Das Großartige an Kleisterpapier ist, daß mit denselben Basistechniken nicht nur ganz unscheinbare Allerweltspapiere,
sondern auch raffinierte Bogen von feiner Eleganz produziert werden können.



Susanne Krause ist Buntpapiermacherin aus Hamburg
www.hamburgerbuntpapier.de

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